"Forschung hilft öffentliches Bewusstsein zu schaffen"

Porträtbild Alexander Grob

Der Präsident der Leitungsgruppe, Professor Alexander Grob, stellt das NFP 76 vor.

Herr Grob, der Bundesrat hat im Jahr 2017 für das NFP "Fürsorge und Zwang" 18 Mio. Schweizer Franken beschlossen. Wie kam es zu diesem NFP?

Vor 1981 kam es in der Schweizer Fürsorge und im Vormundschaftswesen zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Verfahrensrechte gab es damals kaum; wer von solchen Massnahmen betroffen war, litt vielfach unter diesen drastischen Eingriffen. Heute anerkennen Bundesrat und Parlament das Leid, das diesen Menschen durch die Missachtung von Grundrechten zugefügt wurde. Um die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen in einem breiten Kontext, bis in die Gegenwart und mit einem Blick in die Zukunft zu untersuchen, beauftragte der Bundesrat den Schweizerischen Nationalfonds mit dem NFP 76.

Was will das NFP erreichen?

Unsere Forschungsarbeiten im NFP 76 tragen dazu bei, das vielen Menschen angetane Unrecht aufzuarbeiten und hierfür ein öffentliches Bewusstsein zu schaffen. Die Forschenden werden Merkmale, Mechanismen und Wirkungsweisen der schweizerischen Fürsorgepolitik und -praxis analysieren. Es sollen mögliche Ursachen für integritätsverletzende Fürsorgepraxen identifiziert und die Auswirkungen auf die Betroffenen untersucht werden. Wichtig ist uns, dass die Geschichte von Fürsorge und Zwang so aufgearbeitet wird, dass dadurch Analysen von gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen möglich werden. Das NFP hat einen breiten Abnehmerkreis. Politik und Behörden erwarten Handlungs- und Orientierungswissen für ihre Entscheidungsprozesse. Zudem geht es um die Sensibilisierung von Praxis und Bevölkerung für Formen der Ausgrenzung im Kontext der staatlichen Fürsorge bzw. des Kindes- und Erwachsenenschutzes.

Wie beurteilen Sie das Portfolio der 22 Forschungsprojekte im NFP 76?

Wir konnten 22 vielversprechende und wissenschaftlich hochstehende Projekte bewilligen, die nun an Hochschulen und privaten Instituten in der ganzen Schweiz aufgegleist werden. Die Projekte decken eine grosse thematische Vielfalt ab. Untersucht werden etwa die Rolle von Behörden bei der Platzierung von Kindern, die Rechte von Kindern und deren Eltern, die Bedeutung normativer Vorstellungen von Erziehung und Fürsorgepraxen, der Einfluss von medizinischen oder forensischen Gutachten, aber auch die Erfahrungen von Betroffenen und die Frage, wie sich das Widerfahrene im Lebensverlauf auswirkt. Sorgfältiges wissenschaftliches Arbeiten braucht Zeit. Wir erwarten die ersten Ergebnisse aus den Projekten ab 2021. Eine Synthese mit Schlussfolgerungen wird voraussichtlich im 2024 publiziert.

Die Leitungsgruppe des NFP 76 ist zum Schluss gekommen, dass bestimmte Themen noch nicht vollumfänglich abgedeckt sind. Noch im 2018 plant der Schweizerische Nationalfonds deshalb eine Zweitausschreibung für weitere Projekte. Diese soll voraussichtlich Forschungsprojekte zu Zwangsadoptionen, zur generationenübergreifenden Weitergabe von sozialen, materiellen und psychischen Nachteilen oder zur Rolle von zivilgesellschaftlichen Akteuren anregen.

Bei der Erforschung sensibler Themen gibt es spezielle Anforderungen: Wie stellen Sie sicher, dass die Forschenden des NFP 76 richtig vorgehen?

Verantwortlich für die Durchführung der Projekte nach wissenschaftlichen Standards sind die Forschenden. Sie arbeiten mit zum Teil sensiblen Daten und müssen jederzeit für die Einhaltung sämtlicher Regeln des Datenschutzes und der Datensicherheit sorgen. Die Leitungsgruppe des NFP 76 überwacht die gesamte Programmdurchführung und muss reagieren, wenn Regeln verletzt werden. Der Nationalfonds verfügt über ein Sanktionenrecht, das jedenfalls zur Anwendung kommt, wenn Beitragsempfänger/innen gegen Regeln verstossen bzw. rechtswidrig handeln. Die Institutionen, an welchen die Forschenden angestellt sind, ahnden Rechtsverstösse ebenfalls.

Proaktiv hat der Nationalfonds allen Projektleitenden mit der Zuspracheverfügung speziell ausgearbeitete ethische Richtlinien zugestellt. Darin geht es z. B. um den Umgang mit Persönlichkeits- und Datenschutzrechten von Betroffenen, ihrem sozialen Umfeld und ihren Nachkommen. Die Leitungsgruppe hat darin auch Rahmenbedingungen formuliert, wie beispielsweise Interviews mit Betroffenen zu führen sind.

Wie kommen Betroffene selber mit den Forschungsarbeiten in Berührung?

Das NFP 76 wird in den kommenden Jahren laufend über den Fortgang der Forschungsarbeiten informieren – über Newsletters, persönliche Kontakte sowie die Webseite. Geplant sind ab 2020 eine Reihe von Dialogveranstaltungen und Publikationen, in deren Gestaltung und Durchführung verschiedene Abnehmerkreise einbezogen werden, darunter auch Personen, die in ihrem Leben selber von fürsorgerischen Massnahmen betroffen waren und davon geprägt wurden. Viele Forschungsprojekte werden zudem Interviews mit Betroffenen führen. In dieser Form findet wohl der engste Austausch zwischen Forschung und Betroffenen statt, nahe bei der Forschung und verbunden mit der Möglichkeit, konkrete Beiträge zu leisten.